House of Leaves (2000) von Mark Z. Danielewski

Erst kürzlich gab es hier einen Eintrag über ein Spukhaus. Wer noch immer von verwunschenen Häusern nicht genug bekommt, oder das Ganze einfach in moderner und experimentellerer Form präsentiert haben möchte, der sollte einen Blick auf Mark Z. Danielewskis House of Leaves werfen.

Das “Haus der Blätter” setzt sich aus mehreren Handlungssträngen zusammen, die sich, ganz ähnlich dem Hause im Mittelpunkt einer dieser Stränge, auf verschiedenen, ineinander verschachtelten Schichten befinden. Da sind zum einen die namenlosen (fiktiven) Herausgeber, die sich nur an wenigen Stellen direkt an die Leser wenden, deren weiterer Einfluß auf den Inhalt des Buches, sofern sie diesen überhaupt hatten, im Unklaren bleibt. Sie präsentieren uns hier das Manuskript eines gewissen Johnny Truant. Neben Anekdoten aus seinem Leben und Einblicke in den zunehmenden Verfall seiner geistigen Gesundheit bestehen Truants Ausführungen vor allem aus Kommentaren und Rechercheergebnissen zu einem weiteren Manuskript, das er aus dem Nachlass eines kürzlich ohne rechtmäßige Erben verstorbenen Eigenbrötlers rettete. Keiner der Nachbarn kannte den wahren Namen des verschlossenen Sonderlings, der sich selbst, nach einer Figur aus Fellinis La Strada, bloß Zampanò nannte. Zampanò, der mit Blindheit geschlagen war, hatte neben einigen streunenden Katzen nur wenig sozialen Umgang. Hin und wieder bezahlte er Studenten um ihm vorzulesen und ihm bei der Niederschrift seines Manuskriptes zu helfen, aber Johnny Truants späteren Interviews mit einigen dieser Studenten befördern nur wenige bruchstückhafte Informationen zutage. Das Werk des geheimnisvollen Exzentrikers ist eine fast schon wissenschaftliche Abhandlung über, vielleicht überraschenderweise bedenkt man seine Blindheit, einen Film, The Navidson Record. Dieser Film, die nächste und unterste Ebene in House of Leaves, dokumentiert Will Navidsons Versuche die unerklärlichen Geheimnisse seines Hauses zu lüften. Navidson, ein weltweit renommierter Photograph, kaufte dieses antike Haus im ländlichen New England in der Hoffnung in der idyllischen Abgeschiedenheit um durch einen Neuanfang seine in die Brüche geratene Ehe zu retten. Doch anstelle von Ruhe und Entspannung mehren sich rätselhafte Phänomene: das eben erst maßgenau eingepasste Bücherregal schließt auf einmal nicht mehr mit der Wand ab; Messungen ergeben, dass das Haus von Innen scheinbar breiter ist als von Außen; im Schlafzimmer erscheint eine Tür, die vorher nicht da war.

Die verschiedenen Schichten des Buches finden ihre Entsprechung auch in der äußeren Struktur. Johnny Truants Beschreibungen seiner Beschäftigung mit Zampanò und Navidson driften immer wieder ab in einen tagebuchähnlichen stream of consciousness. Mit zunehmender Dauer seiner Nachforschungen weiten sie sich immer mehr zur Obsession aus, seine Äußerungen werden immer inkohärenter.

Zampanòs Arbeit ist anfangs klar strukturiert und gespickt mit Fußnoten voller Anmerkungen und Zitaten aus verschiedenen (sowohl echten als auch erfundenen) Werken. Spätere, noch unvollendete bzw. beschädigte Teile des Manuskriptes können von Truant nur teilweise rekontruiert werden. SIe enthalten lange Listen, scheinbar ohne Zusammenhang zum Kontext, in dem sie stehen. Ganze Seiten fehlen, oder sind unleserlich. Mehr und mehr Platz nehmen detaillierte Beschreibungen des Inhalts von Navidsons Film ein. Der Text spiegelt hierbei zunehmend die beschriebenen Veränderungen im Haus des Photographen: es gibt Seiten, auf denen der Text spiralförmig der Mitte der Seite zuläuft, spiegelverkehrte Absätze und Sätze, die sich Wort für Wort über ansonsten leere Seiten ausdehnen. Durch diese ungewöhnliche Struktur erhält die Lektüre von House of Leaves eine besondere sinnlich wahrnehmbare Komponente.

Ein Motiv, das das gesamte Buch hindurch relevant ist, ist das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit. Neben diversen Zitaten aus Büchern, die auch außerhalb von House of Leaves existieren, in Zampanòs Ausführungen, stellt sich die Frage nach Realität und Erfindung auch bei Einnahme einer Perspektive im Buch selbst. Ob Zampanò und Navidson innerhalb Danielewskis fiktiver Welt überhaupt jemals existierten lässt sich nicht beantworten. Der Leser erhält sein ganzes Wissen über die beiden aus dritter Hand durch Johnny Truant, der sich gleich zu Beginn selbst als leidenschaftlicher Geschichtenerzähler und -erfinder charakterisiert. Dieses Spiel wiederholt dann auch bei jedem weiteren Herabsteigen der Erzählebenen: Truant kann keine Beweise für die tatsächliche Existenz von The Navidson Record finden und er scheitert bei dem Versuch das Navidson-Haus selbst zu finden. Zampanòs Essay wiederum enthält ein ganzes Kapitel, das die Frage nach der Authentizität von Navidsons Aufnahmen beschäftigt. Dazu zitiert er aus verschiedenen früheren Abhandlungen anderer Autoren über den Film (Johnny kann keine einzige dieser Quellen auftreiben), die das für und wieder argumentieren. Am Ende des Buches finden sich verschiedene Anhänge mit mehr oder weniger relevanten Dokumenten, Interview-Transkripten und Briefen, die Johnny Truant bzw. die anonymen Herausgeber gesammelt haben (und die teilweise verschlüsselte Botschaften enthalten, die zu finden & entschlüsseln den Lesern überlassen wird). Ergänzend folgt noch ein Stichwortverzeichnis, in dem sich bei genauer Lektüre noch einige Hinweise finden lassen wie manches Geheimnis des Buches gedeutet werden könnte – ähnlich wie in Vladimir Nabokovs Pale Fire (1962), mit dem House of Leaves  überhaupt einige Gemeinsamkeiten aufweist, nicht zuletzt die verschiedenen Handlungsebenen und metafiktionale Elemente.

House of Leaves ist mehr als nur eine Horrorgeschichte, es ist ebenfalls Sprachspiel, fordert und fördert den Einsatz gewisser detektivischer Beobachtungs- und Deduktionsgabe, es ist eine sinnliche Erfahrung, die gewohnte Formen des Romans an ihre Grenzen bringt und es ist tolle Literatur, die manchmal jedoch an der Linie kratzt, oder sie bereits knapp überschreitet, etwas zu gewollt die eigene Cleverness hervorheben zu wollen. Vor allem anderen ist Mark Z. Danielewskis House of Leaves eins: ein unheimlich unterhaltsames Buch, das zu lesen großes Vergnügen bereitet und auch darüber hinaus zu weiterer Beschäftigung damit einlädt.