Mulligan Stew (1979) von Gilbert Sorrentino

Mulligan Stew ist der Name, den, vornehmlich irische, Landstreicher im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts einem Eintopf aus Fleisch, Kartoffeln und Gemüse gaben. Dieser wilde Mischmasch aus allen gerade zur Hand befindlichen Essensresten, der wohl selten zweimal genau gleich geschmeckt hat, erinnert auch an die Struktur des typischen Internetblogs und ist damit ein passender erster Eintrag in ein ebensolches.

Mulligan Stew ist ebenfalls der Titel eines Romanes von Gilbert Sorrentino und auch hier herrscht ein Durcheinander verschiedener Zutaten vor, sowohl was Struktur als auch Inhalt betrifft. Die auftretenden Figuren sind allesamt aus anderen Werken entlehnt, vor allem aus James Joyces Finnegans Wake (1939) und At Swim-Two-Birds (1939) von Flann O’Brien – dem Sorrentino das Buch auch gewidmet hat. Ähnlich wie At Swim-Two-Birds hat auch Mulligan Stew mehrere Ebenen, die die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen lassen. Noch vor dem Beginn des Romanes finden sich einige Auszüge aus Briefen von Verantwortlichen diverser Verlagshäuser, alle mehr oder weniger mit dem selben Inhalt: Das Buch Mulligan Stew eines gewissen Gilbert Sorrentino sei zwar durchaus gelungen, könne aber aus diesem oder jenen Grund derzeit nicht in ihrem Verlag erscheinen. Die Verleger sind erneut fiktive Charaktere aus anderen Büchern (u.a. William Gaddis’ JR (1975) und Malcom Lowrys Under the Volcano (1947) ) – der Inhalt der Briefe ist womöglich echt.

Der eigentliche Beginn des Buches ist zugleich das erste Kapitel eines experimentellen Kriminalromans-innerhalb-des-Romans namens Guinea Red bzw. Crocodile Tears – Anthony Lamont, der Autor des Manuskripts, hat noch Schwierigkeiten sich auf einen Titel festzulegen. Lamont, der sich selbst als Teil der Speerspitze literarischer Avantgarde sieht, lässt dabei kein abgeschmacktes Klischee des Genres aus. Martin Halpin, der (Anti-)Held dieser Geschichte, findet sich in einer abgelegenen Hütte nahe eines Sees wieder, vor ihm ausgestreckt der tote Körper seines Freundes Ned Beaumont, von dem Halpin nicht weiß, ob er es war, der ihn ermordete (und der Autor Lamont scheint sich auch noch nicht recht entschieden zu haben). Während Halpin auf die Ankunft der Polizei wartet ruft er also die Geschehnisse, die ihne zu diesem Punkt führten, in sein Gedächtnis, um so vielleicht auch die Frage nach seiner Schuld zu ergründen. Er erinnert sich an die herzensgute, wenn auch etwas naive, Daisy Buchanan, and die Femme fatales Corrie Corriendo und Berthe Delamode, an bizarre und immer absurder werdende Sex-Eskapaden, von denen Lamont mehr oder weniger zugibt sie nur zu schreiben, da er sich höhere Absatzzahlen für sein Buch davon verspricht. Das ganze in einem absichtlich dilettantischen Schreibstil gehalten (d.h. absichtlich aus Sicht Sorrentinos). Es wiederholen sich die immer gleichen Metaphern und Redewendungen; die Farbe des Himmels wird immer wieder beschrieben als “flawless/faultless blue”, einmal folgt auf diese Beschreibung eine längere Abhandlung über die Beziehung zwischen der Farbe Blau und der Unschuld, gespickt mit Zitaten von Platon und anderen Gelehrten, die sich lesen wie aus einer Enzyklopädie abgeschrieben. An anderer Stelle schleichen sich als immer wiederkehrende Fehler ein, etwa die Position des Leichnams Beaumonts, die sich bei nahezu jeder erneuten Beschreibung verändert. Diese “B-Book”-Qualitäten sind sowohl eine der größten Stärken als auch, je nach Geschmack des jeweiligen Lesers, die größte Schwäche Mulligan Stews: die herrlich schlechten Ergüsse Lamonts sind oft urkomisch; schlechte Literatur so gut zu schreiben muss Sorrentino erst einmal nachgemacht werden. Jedoch wenn der Witz einmal nicht zündet, oder der Leser diese Art von Humor nicht teilt, dann bleibt in den entsprechenden Kapiteln eben bloß “schlechte Literatur” zurück. Neben den Auszügen aus seinem kommenden Meisterwerk lernen wir noch mehr über Lamont durch Einblicke in seine Notizen – hauptsächlich lose Ansammlungen literarischer Fingerübungen – und vor allem durch Briefe, die er an verschiedene Personen schickt. Darunter seine Schwester Sheila, deren Mann Dermont Trellis, ebenfalls Schriftsteller, Lamont dessen, ihm selbst verwehrten, finanziellen Erfolg übelnimmt. Einen Literaturprofessor, der Lamonts Büchern eine Vorlesungsreihe widmen möchte, jedoch immer mehr von dieser Idee abzukommen scheint und sich stattdessen immer mehr ausgerechnet für Trellis’ Werke interessiert. Lamonts Briefverkehr mit einem betrügerischen Spammer, der ihm großen Reichtum verspricht – nicht ohne eine bescheidene Anfangsinvestition versteht sich – gehört zu den witzigsten Stellen des Buches.

Anthony Lamont selbt ist eine der Figuren, die sich bereits in At Swim-Two-Birds finden, wo er ebenfalls ein Schriftsteller ist. Ähnlich wie dort und in Büchern wie Felipe Alfaus Locos (1936) entwickeln auch die Charakter in Mulligan Stew ein Eigenleben, auf das ihr Autor keinen Einfluss ausübt. In O’Briens Klassiker war Lamont noch selbst einer dieser Charaktere, hier findet er sich nun auf der anderen Seite wieder: Sein Protagonist Martin Halpin stammt ursprünglich aus einer Fußnote in Finnegans Wake1 und ist mit seiner neuen Rolle alles andere als zufrieden. Halpins Tagebuchaufzeichnungen machen einen weiteren großten Teil des Buches aus. Gemeinsam mit dem ebenfalls im Roman gefangenen Ned Beaumont (aus Dashiell Hammetts The Glass Key (1931)) erkundet er während Lamonts Schreibpausen die Umgebung auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Diese Schreibpausen werden immer länger während Lamonts Geistesgegenwart immer mehr abnimmt. Seine Interaktionen mit Sheila, Trellis und dem Professor werden immer bizarrer, er schreibt große Teile des Manuskripts um, Fehler schleichen sich ein, der Roman entgleitet ihm mehr und mehr.

How to get away? That must stand as the overwhelmingly important question in my life as of this moment. It is quite impossible for me to go through this charade for too much longer. Were there a God I would beg Him to tell me why he allowed this scribbler, this unbearably pretentious hack, Anthony Lamont, to place me in this ridiculous position. The things that I have been forced to say! The utter silliness of the “story” so far. What have I done to be plucked out of the wry, the amused footnote in which I have resided, faceless, for all these years in the work of that gentlemanly Irishman, Mr. Joyce?
“An old gardener,” so I have been for these thirty-odd years, an old gardener who has never gardened, never ever seen, so far as I can remember, a garden – and happy not to have seen one, by God! What a delight to reside in that quietly monumental world all this time, a small part of it, content behind the letters that form my name. In a way, I was the letters, no more. Now I find myself in a cold vacation cabin of some sort, perhaps I am even a murderer, if this hack chooses to make me one. There has to be a way to free myself, and if not that, at least to discover what sort of landscape this Lamont has made for himself in other books, if he’s written any.

Wie entkommen? Dieser Frage muss zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben allerhöchste Bedeutung beigemessen werden. Es ist geradezu unmöglich für mich diese Farce noch viel länger mitzumachen. Gäbe es einen Gott, ich würde Ihn anflehen mir zu sagen, wie er es diesem Schmierfinken, diesem unerträglich prätentiösen Möchtegern, Anthony Lamont, nur erlauben konnte mich in diese lächerliche Lage zu bringen. Die Dinge, die ich auszusprechen gezwungen wurde! Die schiere Albernheit der “Geschichte” bis hierhin. Was habe ich getan um es verdient zu haben aus der ironischen, der vergnügten Fußnote herausgerissen zu werden, die jahrelang meine Heimstätte war? Gesichtslos wohnte ich hier inmitten des Werkes dieses weltmännischen Iren, Mr Joyce.
“Ein alter Gärtner”, das war ich diese letzten mehr als dreißig Jahre. Ein alter Gärtner, der niemals gegärtnert hat, nichtmal, soweit ich mich erinnern kann, je einen Garten zu Gesicht bekommen hat – und glücklich darüber, um Gottes Willen! Was für eine Wonne all die Zeit diese mühelos monumentale Welt zu bevölkern, ein kleiner Teil von ihr zu sein, zufrieden hinter den Buchstaben, die meinen Namen bilden. In gewisser Weise war ich diese Buchstaben und nichts weiter. Nun befinde ich mich in einer kalten Ferienhütte, wenn man das so nennen kann. Möglicherweise bin ich sogar ein Mörder, wenn sich dieser Schreiberling nur entschließt mich zu einem solchen werden zu wollen. Es muss einfach einen Weg geben mich zu befreien und, selbst wenn das nicht möglich sein sollte, wenigstens die Landschaft zu erkunden, die Lamont in anderen Büchern, sofern er welche geschrieben hat, schuf.

Zwischen Lamonts Briefen, Notizen, Romankapiteln und Halpins Tagebüchern finden sich immer wieder weitere Elemente, ohne offensichtlichen Zusammenhang mit dem Rest: seitenlange Listen, Textauschnitte, erotische Gedichte einer gewissen Lorna Flambeaux und die von Sorrentino bereits vorher alleine veröffentlichte Masque Flawless Play Restored (1974). Ein deftiges Mischmasch eben.

 

 

1 I have heard this word [hobbyhodge] used by Martin Halpin, an old gardener from the Glens of Antrim who used to do odd jobs for my godfather, the Rev. B.B. Brophy of Swords.